Marie und Mila – eine bittere Selbstabrechnung.

Die Idee, ihr unterbrochenes Masterstudium nach 25 Jahren wieder aufzunehmen, erschien ihr so absurd und realisierbar wie eine Expedition in die Antarktis. Das war keine Idee für ein neues Leben. Es war, so dachte sie, eine letzte Chance, dem zu entkommen, was sie hier erwartete. Verglichen damit war die Antarktis für sie nicht beängstigend. Zumindest nicht so sehr. In ein paar Monaten werden zwei Kinder im Haus sein, und sie wird das Glück ihrer Schwestern von der Seitenlinie aus beobachten müssen, immer mit dem Gedanken, dass sie hier die dritte glückliche Mutter sein könnte. Gleichzeitig mit dem Bewusstsein, dass sie es nicht sein konnte, denn selbst wenn ein Wunder geschähe und das Schicksal ihr das Kind heute zurückgeben würde, würde sie wahrscheinlich vor Angst sterben, was sie damit anfangen sollte. Sie übernahm nie wirklich die Verantwortung für ihr eigenes Leben, wie konnte sie also die Verantwortung für das Leben ihres Sohnes übernehmen? Das Studium opferte sie, um ihre Schwester großzuziehen, doch nutzte sie nicht im letzten Moment die Gelegenheit, um dem Zwang zu entgehen, nach dem Abschluss ihren eigenen Lebensweg einschlagen zu müssen? Heute war sie sich dessen nicht mehr sicher. Vor Jahren versteckte sie sich hier in den Almen wie in einer Festung. Angeblich unterstützte sie ihren Vater, aber in Wirklichkeit hing sie selbst an ihm. Sie lebte immer mehr das Leben der anderen als ihr eigenes. Es gab ihr einen gewissen Ersatz für Glück. Sie wurde zur Philosophin, zur »Beichtväterin« und zur Meisterin darin, andere zu beraten, nur sich selbst konnte sie nie einen Rat geben. Die Probleme anderer zu lösen, war eine Ausrede dafür, dass sie keine Antworten für sich selbst suchte und ihr eigenes Leben nicht meisterte. Das Universum mit all seinen fernen Sternen war ihr manchmal näher als das, was sich an der nächsten Straßenecke befand.

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Das Gespräch beim Mittagessen und die Erinnerungen an München brachten das schon leicht verwischte Bild von David – ihrem letzten Freund – zurück. Zu ihrer großen Überraschung erhielt sie eine Postkarte von David – Grüße aus Amerika. „David hat dich nicht vergessen! Man erinnert sich für den Rest seines Lebens an seine erste Liebe, seine erste Freundin!“, sagte ihre Mutter, als Mila ihr die Postkarte zeigte. Lisa war gerade in schlechter Laune, also gab ihren Senf dazu: „Du hast ihm das Herz gebrochen, also ging er nach Amerika, obwohl er dort nie studieren wollte. Er ist zu seiner Mutter gegangen, die er hasst und mit der er nichts gemein hat“. Mila ging zum Medikamentenschrank und holte zwei lange elastische Binden heraus. Sie setzte sich auf einen niedrigen Stuhl und versuchte einen Moment zu rekonstruieren, wie ihr Vater die Hände unter den Handschuhen umgewickelt hat. Als sie klein war, zeigte ihr Vater ihr das viele Male. Sorgfältig begann sie eine Hand vom Daumen an zu umwickeln, dann ein paar Mal das Handgelenk, dann ein paar Mal den Mittelhandknochen über Kreuz, wieder ein paar Mal die Handgelenkknochen und so weiter.[…]