Ein spiritueller Tanz mit der Göttlichkeit, oder Lisa und Karin beim Yoga für Schwangere.

In dem großen Raum mit den verspiegelten Wänden waren bereits etwa ein Dutzend Frauen in verschiedenen Schwangerschaftsstadien anwesend, dazu ein, in diesem Fall überraschenderweise, männliches Exemplar – ein Mann Mitte vierzig, leicht glatzköpfig, mit Brille, buntem T-Shirt und kurzen schwarzen Leggins. Der Yoga-Kursleiterin war noch nicht da. Karin und Lisa, die zum ersten Mal und ohne Matten hier waren, standen vorerst am Rand und schauten sich im Raum um und kommentierten natürlich alles untereinander. In der ersten Reihe der Hahn im Korb.

„Was macht dieser Typ hier?“, flüsterte Karin ihrer Schwester zu.

„Othello oder ein über engagierter werdender Papi?“

„Wahrscheinlich eher Letzteres. Du weißt schon, späte, lang ersehnte Vaterschaft.“

„Mhm, zehn Jahre lang hat man versucht, Nachwuchs zu bekommen, fünf IVF-Versuche hintereinander, und falls sie gläubig sind, vielleicht eine Pilgerfahrt nach Lourdes“, erwiderte Lisa verständnisvoll.

„Manche Männer sind so beunruhigt über den Zustand ihrer schwangeren Partnerin, dass sie sogar an morgendlicher Übelkeit leiden. Das hat sogar seinen eigenen Namen „Couvade-Syndrom.“

„Sag bloß nicht, dass ihnen auch die Brustwarzen wehtun?“

[…]

Währenddessen wandte sich Sarah wieder an die Yogateilnehmer:

„Ich sehe heute einige neue Teilnehmer. Bevor wir zum Kern der Sache, nämlich dem Yoga selbst, kommen, möchte ich ein paar einleitende Worte sagen. Wenn ich in kürzester Form sagen müsste, was Yoga für mich persönlich ist, würde die Antwort lauten, dass es meine große Liebe ist. Natürlich glaube ich fest daran, dass auch für Sie, liebe werdende Eltern, Yoga bald zu einer Liebe werden wird, die Ihnen nicht nur hilft, diese besondere Zeit des Wartens auf Ihren Nachwuchs leichter und erfüllter zu leben, sondern die auch für immer bei Ihnen bleiben wird – für den Rest Ihres Lebens.“

„Ich stelle mir die große Liebe ein bisschen anders vor“, sagte Lisa flüsternd zu Karin.

„Ich frage mich, ob das Gefühl zumindest auf Gegenseitigkeit beruht?“

„Für den profanen Menschen ist Yoga einfach nur Dehnung. Aber für diejenigen, die seine Kraft erfahren haben, ist Yoga ein wahrer spiritueller Tanz mit der Göttlichkeit, wie Dr. Anodea Judith1 es poetisch ausdrückte“, fuhr Sarah fort.

„Irgendetwas sagt mir, wenn wir nach diesem Tanz mit der Göttlichkeit zum Chor in die Kirche eintreten, wird man uns gleich heiligsprechen“, sagte Karin mit einem entsprechenden Gesicht zu ihrer Schwester.

„Mhm, santo subito!“, erwiderte Lisa mit einem Lachen, „Eine Heilige wird man vielleicht aus dir machen. Ich werde wohl eher auf den Scheiterhaufen geschickt.“

„Yoga findet immer dann statt, wenn du etwas bewusst, achtsam und absichtlich tust, ob du nun eine Asana ausführst oder nach einer Tasse Kaffee greifst“, fuhr sie in ihrem Mini-Vortrag fort, „Yoga findet immer dann statt, wenn ihr eure innere Anmut verkörpert. Was könnte es Schöneres geben als das? Denn beim Yoga geht es entgegen der allgemeinen Meinung nicht um Selbstverbesserung, sondern um Selbstakzeptanz.“ […]

Mila und Mohammed, zwei Welten?

Mila richtete ihren Blick auf die Kinder, die vorne marschierten.

„Selbst auf dem Waldweg müssen sie Nachrichten senden“, seufzte Mila und rief nach dem Mädchen im dritten Paar, das dringend etwas auf ihrem Handy schrieb.

„Pauline! Steck dein Handy in die Tasche, sonst fällst du um!“

„Mama fragt, wo ich bin“, erwiderte das Mädchen, ohne den Kopf zu wenden und die Nase vom Telefon zu nehmen. „Ich muss antworten.“

„Für ein Kind ist das Telefon ein Spielzeug, für Erwachsene ist es die perfekte Kontrolle“, bemerkte Mohammed.

„Manchmal hat dies auch einen Vorteil“, gab Mila zu. „Wenn sich eines dieser Kinder im Wald verlieren würde, hätten wir sofort einen Hinweis darauf, wo es ist.“

„Sie haben noch kein GPS unter der Haut, aber es ist schon in ihren Taschen“, erwiderte der Junge amüsiert.

„Glaubst du, dass unsere Kinder die ersten sein werden, die den Chip bereits implantiert, haben?“, fragte Mila plötzlich ernst.

„Unsere Kinder?“, warf Mohammed ein und hob die Augenbrauen.

„Ach, dreh mir nicht die Worte im Mund herum!“ Mila runzelte die Stirn, „Meine oder deine.“

„Meine Kinder sicher nicht. Ich werde mich selbst um ihre Sicherheit kümmern, ohne ihnen Sendegeräte unter die Haut zu implantieren.“

„Wer weiß, möglicherweise wirst du dann nicht mehr das Recht haben, zu widersprechen.“

„Schöne neue Welt.“

„Aldous Huxley hat nicht einmal davon geträumt.“

„Futuristen sind Pessimisten. Niemand sagte voraus, dass der Islam die Welt retten würde.“

„Wenn diese gerettete Welt wie Afghanistan aussehen soll, dann danke ich für solch eine Welt. Ich steige aus.“

Mohammed lachte laut auf.

„Die islamische Welt ist ebenso vielfältig wie die christliche Welt. Nicht jeder Muslim ist ein Taliban. Du weißt nicht viel über uns.“

„Wenn du deine ideale Welt beschreiben müsstest, in der du gerne leben würdest, wie würde sie aussehen?“

„Die muss nicht perfekt sein. Es genügt, dass ich darin so sein kann, wie ich bin, und dass meine Kinder sicher und glücklich sein können, ohne mit Chips implantiert zu werden.“

„Ich mag deine Welt. Ich glaube, ich könnte darin einen Platz für mich finden.“

„Das ist gut so, denn ich würde es sehr bedauern, wenn wir in zwei verschiedenen Welten leben müssten.“

„Nun, da bin ich mir nicht sicher. Wenn du meine Familie besser kennenlernst, wirst du deine Meinung über mich vielleicht ändern.“

„Dann erzähl mir davon und lass mich selbst beurteilen. Du weißt schon so viel über meine Familie, während ich fast nichts über deine weiß.“

„Vielleicht eines Tages …“ Sie versuchte nicht einmal, sich vorzustellen, wie Mohammed auf all diese Enthüllungen reagieren würde. „Was für ein Glück, dass Lisa mit seinem Bruder schwanger ist! Er wird seinen Mund halten. Schließlich sind wir ja so eine Plage für ihn“, dachte sie.

„Warum gehst du deinem Vater aus dem Weg?“, Mohammed ließ sich von ihren Worten nicht abfertigen.

„Weil er alles kaputt gemacht hat, indem er sich wie der letzte Primitivling verhalten hat.”

„Und das hat gereicht, um deine ganze christliche Barmherzigkeit verschwunden ist?“

„Das ist nicht verschwunden. Ich weiß, dass er für seine Tat bestraft wurde. Aber ich brauche Zeit, um darüber hinwegzukommen.“

„Wie kommst du darauf, dass ich dich nach dem Verhalten deines Vaters beurteilen könnte? Weder du noch ich sind für die Schuld unserer Väter verantwortlich. In diesem Punkt sind wir uns einig.“

[…]